Dokumente der Vergangenheit: 
Artikel "Ariane Mnouchkine. Die Sonnenkönigin des Theater " aus der Zeitschrift 
"Im Blickpunkt der Berlinerin", Ausgabe Nr. 8, August 1985
   

Ariane Mnouchkine. Die Sonnenkönigin des Theaters

Die Französin Ariane Mnouchkine, Jahrgang '39, russisch-englischer Abstammung, zählt zu den wenigen Frauen, die neben dem Beruf der Schauspielerin und Regisseurin auch als Schauspielentruppenleiterin international bekannt wurde. Sie hat nicht nur Ideen und inszeniert Stücke, sondern schreibt diese auch.  Zunächst studierte sie in Oxford und Paris Psychologie, später Theaterwissenschaft. 1964 gründete sie ein Kollektiv aus Amateur- und Berufsschauspieler/innen in Paris - das "Théâtre du Soleil" (Theater der Sonne). Die Mitglieder der Truppe entschieden sich für diesen Namen als Symbol für Hitze, Licht, Schönheit, leben - eben Theater! Spielort ist die "Cartoucherie" (ehemalige Patronenfabrik) am östlichen Stadtrand von Paris. Ihre internationale Berühmtheit erlangte die Truppe mit den Revolutionscollagen "1789" und "1793" (beide 1970) sowie mit dem Film "Molière" (1977).
Die Mnouchkine arbeitet mit Elementen des kritischen Volkstheaters, des asiatischen Theaters, der Commedia dell'arte, mit großen Massenchoreographien, beweglichen Spielflächen, Zirkusakrobatik, ausgefallenen Masken und Kostümen. Ein Zusammenspiel von Musik, Licht, Tanz, Sprache und Bewegung, das dem Zuschauer ein nicht zu vergessenes Erlebnis beschert.
Als Ziel ihrer Arbeit gibt Ariane Mnouchkine an: "Ich denke, das Theater, das Spiel der Schauspieler hängt immer von der Klarheit einer Vision ab. Der Schauspieler muß die Kraft, die Imaginationsmuskulatur haben, um Visionen empfangen und hervorbringen zu können. Der Sinn der Textanalyse ist es zu versuchen, alles zu erklären. Die Rolle des Schauspielers und des Regisseurs, im Gegensatz zur Tendenz der letzten Jahre, ist nicht, alles verständlich zu machen. Aufhellen natürlich, nicht verdunkeln. Aber der Zuschauer muß noch selbst Dinge entdecken können. Es gibt Wellen und Resonanzen, wenn ein Schauspieler einen Gong anschlägt oder einen Stein ins Wasser fallen läßt. Aber er wird nicht versuchen, alle entstehenden Wellen festzuhalten, damit jeder die Kreise zählen kann, die von ihm ausgehen. Es kommt stattdessen darauf an, dass er seinen Stein fallen läßt, zack, wo es sein muß, damit alle emotionalen, philosophischen, metaphysischen, politischen Resonanzen entstehen."
Ariane Mnouchkine spricht nur selten über ihre Arbeit. Ihre Sprache sind die Theateraufführungen. Alles, was sie betroffen macht und sie interessiert, setzt sie in die Sprache des Theaters um. Nur darauf kommt es an, daß über die Rampe den Zuschauern mehr als ein vergnüglicher Abend bereitet wird. Die Art und Weise wie Themen angegangen werden, Kostüme und Masken ausgewählt sind und sich in den schönsten Farben und Formen Bilder ergeben, läßt immer noch zu, daß der Zuschauer hinter diese Bilder schauen kann und eigenen Vorstellungen entwickelt.
Es fällt schwer, auf dem Papier einen Eindruck über eine Frau zu vermitteln, deren Arbeit mit den Sinnen aufgenommen wird. darum soll die kurze Beschreibung einiger Sequenzen ihrer Bühnenarbeit etwas von der Phantasie wiedergeben, die die Mnouchkine-Truppe auszeichnet.
In "Mephisto", nach dem gleichnamigen Roman von Klaus Mann (bekannt durch die Verfilmung von Istvan Szàbo), beginnt eine scheinbar harmlos komische Szene damit, daß Hitler, gestört durch aufdringliche Schmeißfliegen, seine Peiniger zu fangen versucht. Während dieser Beschäftigung als "Tanzbär" "entdeckt" er den "Hitlergruß". Dieser vielbejubelte Einfall entstand, wie alles bei Ariane Mnouchkine, aus der Improvisation mit den Schauspielern.
Doch auch die Musik spielt als Element der Ironisierung eine große Rolle. Der unendlich durch die Liebe leidende Herzog Orsini wird in "Was ihr wollt" bei seinen Auftritten stets von einer Schar Hofmusikanten begleitet, die stimmungsgemäß nervenaufreibende Katzenmusik aus ihren Instrumenten hervorquälen. Der Zuschauer leidet unwillkürlich mit.
Die Klarheit, mit der die Stimmungen eingefangen werden, die auch dann wirkt, wenn scheinbar Dinge zusammengebracht werden, die auf den ersten Blick unvereinbar erscheinen, ist Ariane Mnouchkine besonders bei ihrer Arbeit an Shakespeare-Stücken geglückt. Kaum eine andere Truppe kann für sich in Anspruch nehmen, in den letzten Jahren Shakespeare so erfolgreich inszeniert zu haben wie das "Soleil". Ariane Mnouchkine hat einmal gesagt, Shakespeare sei für sie der Himalaya, ein Stück harter Arbeit. es galt den Wandel zu vollziehen, zum ersten mal einen text zu spielen, der nicht von der Compagnie oder Ariane Mnouchkine selbst erdacht wurde.
"Von Shakespeare können wir etwas über das Theater und uns selbst erfahren. Nach vielen Jahren der Eigenproduktionen bedurfte es endlich der Konfrontation mit etwas viel größerem als wir." (A.M.)
Die Zusammensetzung des Shakespeare-Zyklus erklärt Ariane Mnouchkine damit, daß die Historienstücke "Richard II" und "Heinrich IV" nur die Welt der Männer zeigen, dafür aber die Verbindung von Geschichte und Theater zum Ausdruck bringen. das große Theater hat sich immer mit Geschichte und ihrer Interpretation befaßt, um aus der eigenen Gegenwart bewußt in die Vergangenheit zurückzublicken.
Die Komödie "Was ihr wollt" stellt eine andere Seite des Shakespearschen Werkes dar, in dem auch Frauen eine wichtige Rolle spielen.
Zunächst arbeitete die Mnouchkine an einer neuen Übersetzung. es war wichtig, den Shakespeare-Rhythmus in der Sprache zu treffen und nicht, wie bei der Übersetzung Victor Hugos, neue französische Prosa zu schaffen.
Die Probenarbeit mit den Schauspieler/innen beginnt zunächst mit dem gemeinsamen Lesen der Stücke. Zu Hause bekommt der Schauspieler noch einmal viel Material zum Durchstöbern - Fotos, Gemälde, Gedichte - alles, was die Phantasie anregt. Auf der improvisierten Bühnenprobe beginnen dann die Ideen und Gedanken ganz von selbst. Eine "kollektive Phantasie" wird durch die Art und Weise des Inszenierungsprozesses gefördert. Die Mnouchkine verzichtet auf das Studium zahlreicher Theatertheorien, statt dessen soll intuitiv und spontan auf die Probleme zugegangen werden. das Werk steht dabei im Vordergrund; darin finden wir das Schockierende, Aufregende, Mitreißende.
Für die Inszenierung von "Richard II" schickte Ariane Mnouchkine ihre Schauspieler/innen in Filme des japanischen Regisseurs Akira Kurosava ("Rashomon", "Die sieben Samurai"). es heißt erst einmal die Schauspieler/innen von den üblichen Shakespeare-Eindrücken durch konventionelle Aufführungen mit Pseudomittelalter und  Hollywood-Ritterschinken à la "Ivanhoe" zu befreien. Bei den Proben spielten die Schauspieler/innen zunächst jede Rolle, bis für jede/n die geeignetste gefunden war. Die Mnouchkine überwacht den Ablauf und greift nur ein, wenn Gedanken und Phantasie in eine falsche Richtung abgleiten. Sie bestimmt, welche Ideen, welche Varianten schließlich auf der Bühne zu sehen sein werden. Doch die Truppe erarbeitet sich alles selbst. Die Schauspieler/innen verkleiden und schminken sich selbständig. Masken- und Kostümbildnerinnen ergänzen und verbessern die Ausgangsideen von Probe zu Probe. Immer wieder gibt es neue Einfälle.
Am Ende der proben steht die Übersetzung von "Richard II" in eine Samurai-Szene mit fernöstlichem Ritterritual. Trotz dieser Verfremdung wird dadurch erst das mittelalterliche Bewußtsein verständlich.
Der grausamen Gier der Menschen nach Macht und Königswürde ist nur Erfolg beschieden, um an dieser Macht zugrunde zu gehen. Und obwohl sie ihr Ende schon kennen, wünschen sie sich nichts sehnlicher als die unheilbringende Krone auf ihrem Haupt. Die Aufführung soll nicht zeitgenössisch realistisch wirken, sondern sur-realistisch, "hyperrealistisch", wie Ariane Mnouchkine es gerne ausdrückt. Dadurch wird ein Theater geschaffen, in dem Realität und Fiktion eins werden oder sind. "Auf der Bühne wünscht sich der Zuschauer Erzählungen von Menschen zu sehen, deren grausam-komische Abenteuer ihn in anteilnehmende Spannung versetzen. das hat nichts mit Identifikation zu tun - aber Anteilnahme und Spannung dadurch, dass diese Menschen auch etwas treiben, von meinen Gelüsten und Träumen erzählen, die verborgen oder verboten sind durch die Konventionen des alltäglichen Lebens." (A.M.)
das "Théâtre du Soleil" bekommt nur geringe Subventionen. Vieles muß selbst hergestellt werden. Obwohl die Truppe mehr Geld gebrauchen könnte, will Ariane Mnouchkine nicht in einer Institution mit viel Geld arbeiten. Kunst und Kapital, besonders die Mitsprache des Kapitals, passen eben nicht zusammen.
Die Mnouchkine lebt fast nur für das Theater - mehr als zwölf Stunden pro Tag. Privat bleibt da wenig Zeit. Dies ist aber für sie kein Grund, dem Theater weniger Zeit zu opfern. Sie will beides schaffen - Privatleben und Beruf. Ihre unangefochtene Führungsposition in der Compagnie, ihr Talent, die Schauspieler zu immer neuen Ideen anzuregen, und die Aufgabe, stets neue Mitglieder für die Truppe zu entdecken und zu fördern, macht sie zu den interessantesten Frauen in der Theaterwelt - im Namen der Phantasie.

Autorin: Claudia
Ausgegraben von Oda Bianker

(Redaktion Frauenjournal)